Revolution im Ladenregal

Patrick Weisker
06
.
May
2021
Revolution im Ladenregal
  1. Wo kommen die Produkte her?
  2. Wie werden sie produziert?
  3. Was ist das System, das ich mit jedem Kauf unterstütze?
  4. Wo geht mein Geld hin?

Diese vier Fragen möchte Nicolas Barthelmé beantworten, als er vor knapp zwei Jahren, im Juni 2019, die Initiative Du bist hier der Chef gründet. Der Verein verwirklicht eine simple Idee: Die Produktionsbedingungen von Lebensmitteln in die Hände der Verbraucher:innen (zurück-)geben. Das Konzept stammt ursprünglich aus Frankreich und hat sich dort bereits sehr erfolgreich etablieren können.

Das Du bist hier der Chef-Prinzip startet mit einer öffentlichen Umfrage, in der die Teilnehmer:innen über eben diese Produktionsbedingungen abstimmen können. Für das erste Produkt, die Chef-Milch, waren das zum Beispiel Fragen rund um die Haltung der Milchkühe, das Tierfutter oder die Vergütung der Landwirt:innen. Für jede Option wird dabei ein exakter Gegenwert in Euro angezeigt, sodass die Teilnehmer:innen genau wissen, was Tierwohl kostet und für welche Vorzüge sie bereit sind, mehr auszugeben. Es gewinnen schließlich die meistgewählten Optionen (Spoiler: Die Gewinner sind recht eindeutig besonders faire Bedingungen) und die Initiative setzt das gewählte Produkt als Verbrauchermarke um. Dieses basisdemokratische Prinzip soll in Zukunft auf immer mehr Grundnahrungsmittel angewandt werden, aktuell folgen Eier und Kartoffeln.

Von Beginn an übertrifft die Initiative eigens gesteckte Ziele: Aus 5000 gewünschten Antworten für den ersten Fragebogen wurden fast 10000, der Absatz der Milch wächst stetig auf mittlerweile über 750.000 Liter. Gleichzeitig ist die öffentliche und mediale Resonanz für ein so junges Unternehmen unglaublich hoch. Du bist hier der Chef war bereits in etlichen TV-Beiträgen oder Artikeln zu sehen. Ende 2020 gewannen sie den Hessischen Gründerpreis, Anfang 2021 einen Fairness-Preis mit der Verbraucher-Milch. Der Wunsch nach Fairness und Transparenz ist definitiv da – und längst überfällig.

Realitätscheck

Denn etwa ein halbes Jahr vor dem offiziellen Start schaut Nicolas sich auf einer Landwirtschafts-Messe in Berlin um. Milch produzierende Landwirt:innen schildern ihm eine ernüchternde Situation: „Es ist nicht unüblich, dass Milch von einem Hof abtransportiert wird, ohne dass ein Preis feststeht“, resümiert Nicolas seine Gespräche. „Landwirt:innen sehen erst am Ende des Monats, wie viel sie eigentlich verdienen. Gleichzeitig setzt der extreme Preisdruck jedes Denken in Richtung Zukunft aus. Neue Ställe oder Weideflächen und weitere Investitionen sind nahezu unmöglich, wenn sie gerade eben kostendeckend produzieren.“

Außerdem spürt die Landwirtschaft schon heute die Folgen des Klimawandels besonders deutlich. Ein Dürresommer nach dem nächsten verändert maßgeblich die Futtermittel-Ernte. Das bedeutet entweder extern zukaufen oder Tiere abgeben. Insgesamt also wenig Raum für Qualität: Viele kämpfen mit großer finanzieller Unsicherheit, während sich die Gesamtsituation der Branche stetig verschärft. Nicolas schildert, wie einer der 15 ersten Partner-Betriebe aus Hessen auf der Schwelle stand und nur durch die verbesserte Vergütung ein Krisenjahr ausgleichen konnte. „Viele andere haben diese Chance nicht und werden aufhören müssen.“ Ihr kennt vielleicht den Begriff “Höfesterben”.

Stadt vs. Land?

Diese Realität kommt heute nur noch selten in den Städten an. Viele von uns Verbraucher:innen haben sich bei Lebensmitteln sehr von ihrer Herkunft entfremdet. Möglichst viel zu möglichst billigen Preisen lautete wie so oft die Devise. Zu welchen Extremen das führt, wird dann erst einmal ausgeblendet. Das Angebot ist ja vorhanden, also scheint die Produktion schon zu funktionieren.

Das Ergebnis dieser Entfremdung erfährt Nicolas noch vor dem eigentlichen Start der Milch: „Wir sind mit dem ersten Ansatz, uns auf die Belange der Landwirt:innen zu fokussieren, ziemlich gegen die Wand gefahren“, überraschte es auch ihn. Er trifft während der Entwicklung des Konzepts auf so manche verdrossene Stimme, die vom Beruf der Landwirt:innen nicht viel hält: „Die zerstören doch eh nur die Böden oder quälen Tiere, bekommen aber trotzdem dicke Subventionen“, hieß es in etwa. Indirekt bezogene Skandale wie zum Beispiel in der Fleischindustrie im Frühjahr 2020 verhärten dieses Bild von der Lebensmittelindustrie nur mehr – natürlich nicht immer zu Unrecht.

Die Landwirt:innen und produzierenden Partner:innen von Du bist hier der Chef
Die Landwirt:innen und produzierenden Partner:innen von Du bist hier der Chef

Nicolas selbst kommt aus der Lebensmittelbranche, hat dort viele Jahre im Marketing und Vertrieb gearbeitet. Seine Diagnose lautet, dass sich die Landwirtschaft selbst zu sehr auf die Produktion der Rohware konzentriere, aus dem Verarbeitungs- und Vermarktungsprozess aber komplett rausgehalten habe. „Das ist nun das schlechte Ergebnis dieser Entwicklung“, resümiert er. „Sie haben den Zugang zu vielen Verbraucher:innen verloren und damit die Möglichkeit, zu erklären, warum sie so oder so arbeiten.“

Die Lösung kann sicherlich nicht weiterhin der nächste Skandal sein. Es geht vorerst einmal darum, Verständnis zu fördern – und um Rückbesinnung. „Welches System unterstütze ich mit meinem Kauf?“, wie es Du bist hier der Chef festhält. Der Kern des Konflikts dreht sich also nicht um Stadt vs. Land oder Produzent:innen vs. Konsument:innen, sondern vielmehr Transparenz vs. Intransparenz. Niemand möchte unfair produzierte Tierprodukte kaufen, aber kaum jemand ist sich bewusst, was Tierwohl und nachhaltige Landwirtschaft denn eigentlich kosten.

Mündig konsumieren

1,45€ kostet die Chef-Milch. Das ist vergleichbar mit anderen Marken-Produkten. Der große Unterschied liegt letztendlich in vollkommener Offenheit über die Produktionsbedingungen und den Preis der Milch. Wohin geht mein Geld, wenn ich anstatt 80 Cent 1,45 Euro ausgebe? Ins Tierwohl oder die Marge der Marke bzw. des Handels? Bei Du bist hier der Chef ist das exakt aufgeschlüsselt: Die Erzeuger:innen verdienen 58 Cent pro Liter, so viel, wie bei keiner anderen Milch – ob bio oder konventionell. Das garantiert ein hohes Maß an Tierwohl, aber auch das nachhaltige Bestehen der Höfe. Der Rest verteilt sich auf die Weiterverarbeitung, Handel, Transport, Mehrwertsteuer und zuletzt 7 Cent, also 5 Prozent, für die Arbeit des Vereins und der produzierenden GmbH. Nicolas bringt es auf den Punkt: „58 Cent, das schafft niemand anderes in der Branche. Aber für uns als kleine Initiative wird es möglich gemacht – durch die Macht der Verbraucher:innen, die unsere Idee nach vorne pushen.“

Diese zeigt sich auch an anderer Stelle, denn für Werbung und Marketing hat Nicolas bisher keinen Euro ausgegeben. Die Vereinsmitglieder streuen die Idee und sind letztendlich auch diejenigen, die die Milch in Läden bringen, indem sie bei ihren örtlichen Märkten anfragen. Du bist her der Chef lebt von Teilhabe.

„Lieferketten zurückholen”

Das Du bist hier der Chef-Prinzip lässt sich theoretisch auf noch weitaus mehr als nur Lebensmittel anwenden. Nicolas könne sich vorstellen, später auch andere Waren anzugehen. Tatsächlich hat er bereits einige solcher Anfragen gehabt, zum Beispiel für Textilprodukte: „Ich halte so etwas für einen spannenden Schritt – in der Zukunft. Bei Lebensmitteln zu beginnen, ist für uns sinnvoll, da unsere Erzeuger:innen bei uns vor der Tür produzieren. Bei Textilien müssten wir die Überlegung anstellen, ob und wie wir die Produktion effektiv nach Europa zurückholen können. Es ginge also darum, regionale Kreisläufe erst einmal wiederzubeleben.”

Solche Ideen seien laut Nicolas aber noch recht klare Zukunftsmusik. Der nächste Schritt soll viel mehr sein, einen Katalog von Grundnahrungsmitteln zu kombinieren, um weiter verarbeitete Produkte herzustellen. So könnte dann ein wenig später der Chef-Joghurt oder die Chef-Pizza im Supermarkt zu finden sein. Aber egal, was dort letztendlich im Regal liegt: Du bist hier der Chef zeigt uns einen alternativen Weg, auf dem Transparenz, Mitbestimmung und Fairness großgeschrieben werden. Als Verbraucher:innen haben wir so die Möglichkeit, echte Mehrwerte in Preisen zu erkennen und wirklich mündige Entscheidungen über unseren Konsum zu treffen.

Selbst mitbestimmen, einen Markt suchen bzw. vorschlagen oder noch mehr zur Initiative erfahren könnt ihr auf der Du bist hier der Chef-Website.

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